„Sicher ist bisher nur, daß in und durch ,DDR 1949 bis 1989‘ sich eine ziemlich unionistische evangelische Theologie und Kirche herausgebildet hat, die in Zukunft daraus politisches Kapital schlagen kann, daß ohne den riskanten Einsatz evangelischer Pastoren, Gemeinden und Kirchenleiter die im Herbst 1989 erzwungene Veränderung des öffentlichen Lebens in der DDR nicht erfolgt wäre.
Diese Veränderung ist allgemein-menschlich, staatsbürgerlich und auch als für das kirchliche Ansehen in Gesellschaft und Staat nützlich zu würdigen. Aber sie ist – wie jede
Vermischung von weltlichen und geistlichen Anliegen – doppeldeutig. Preces et lacrimae arma ecclesia sunt. (‚Gebete und Tränen sind die Waffen der Kirche‘) Daran wird sich heute und morgen entscheiden, ob die Kirchen hier ihrem geistlichen Wesen gemäß gehandelt haben. Sofern sie allein gewaltlose und leidensbereite Demonstrationen der entmündigten und selbstverantwortlichen Bürger unterstützen, haben sie geistlich entschieden.
Voraussichtlich werden wir bald eine Konjunktur des ‚evangelischen‘ Zeitgeistes in den DDR-Landeskirchen zu gewärtigen haben, die sich in den Kirchen der westdeutschen EKD und im protestantischen Ausland auswirken wird. Der mutige Einsatz der ev. Kirchen in Ulbrichts und Honeckers DDR für das humanum, für die verweigerten und unveräußerlichen bürgerlichen Grundrechte in einem auf Helsinki 1975 verpflichteten Gemeinwesen, kann als geistlich berechtigt und erforderlich beurteilt werden.
Es bleibt aber die Rückfrage, ob diese Politisierung der Kirche im Sozialismus nicht geistlich negative Folgewirkungen auf die Kirche Jesu Christi als den die Welt transzendierenden Offenbarungsort des Dreieinigen Gottes nach sich ziehen muss. In allen Lagen muss Kirche Kirche bleiben, sonst nimmt sie geistlich Schaden. Eine solche kritische Rückfrage an die Kirchen in der DDR ist angesichts historischer Erfahrungen und aufgrund der herkömmlichen Friedfertigkeit von Deutschen mit leidvoller Lebenserfahrung nicht unbegründet. Jedenfalls müssen wir uns darauf einstellen, daß der ‚evangelische‘ Zeitgeist in Ost und West noch mehr als bisher die kirchlich-theologische Meinungsbildung beeinflussen wird.“
August Kimme, 1950 – 1960 Generalsekretär des Luth. Einigungswerkes, bis 1981 Vizepräsident. Vorwort zu seiner Veröffentlichung „Um lutherische Kirche und Mission“, © 1990 im Eigenverlag