Grußwort zum Reformationsjubiläum („Stimme der Väter“ im Weihnachtsrundbrief 2016)

Professor Christoph Ernst Luthardt – einer der Väter des Einigungswerkes und Schirmvater des Jubiläumstages – grüßt und unterbricht die Kirche mitten in ihrem beschäftigten Reformationsjubiläum  mit seinen Gedanken aus dem Jahr 1880:

 
„Um mich, um meine Seele und Seligkeit handelt es sich und wird es sich einst handeln im jüngsten Gericht; da kann kein anderer, auch nicht die Korporation der Kirche für mich eintreten; sondern Christus muss m e i n Heiland sein und seines Heils mich persönlich teilhaftig und gewiß gemacht haben. Das ist der Fortschritt der Reformation in der Entwicklung des religiösen Geistes in der Kirche: diese persönliche Wendung welche dem objektiven Heil gegeben wurde. Es ist das Recht der Subjektivität, dessen Zeitalter damals eröffnet wurde. Seitdem setzt sich das Prinzip der Subjektivität auf allen Gebieten durch, wie auf dem religiösen so auf dem allgemeinen geistigen, sittlichen, politischen, sozialen. […]
Daraus erklärt es sich denn auch, wie der Rationalismus dazu kommen kann, sich für die Fortsetzung und Vollendung der Reformation auszugeben. […] Und noch heute versteht man vielfach unter Protestantismus diese unbedingte Freiheit des einzelnen, sich seinen Glauben in der Schrift selbst zusammenzusuchen, oder schließlich auch ohne die Schrift sich seinen Glauben zu bilden und sich von der Authorität der Schrift und der kirchlichen Lehre zu dispensieren und dabei doch – oder eben darum – ein guter Protestant zu sein. Aber so hatte es Luther nicht gemeint, das war ihm nicht in den Sinn gekommen, eine solche unbeschränkte Freiheit zu predigen und sie zur Grundlage der Kirche zu machen […].
Aber auch für den einzelnen fiel es ihm nicht ein, eine solche Freiheit zu lehren, vermöge derer jeder selbst nach Gutdünken die Schrift deuten und kritisieren und sich zum Richter über die Wahrheit aufwerfen kann. Seine Meinung war nicht, dass der einzelne und seine Vernunft Quelle und Norm der Wahrheit sein solle – nichts lag ihm ferner – vielmehr sollte er Empfänger der Wahrheit sein. Die Wahrheit solle sein persönlicher Besitz und seine persönliche Gewißheit aber nicht sein individuelles Erzeugnis sein. Vielmehr Quelle und Norm der Wahrheit war ihm die göttliche Offenbarung, die ihre Urkunde und ihr Zeugnis in der Schrift hat. Ihr ist der einzelne untergeordnet, nicht übergeordnet. S i e ist Richterin und Authorität, nicht der Mensch.

Wenn Luther sich auf sein Gewissen beruft, so war es sein im Wort Gottes gebundenes Gewissen, also im Grunde dieses Wort Gottes selbst, auf das er sich berief. […]Er kannte kein Recht des Subjekts, außer in der Unterordnung unter die höhere Autorität der göttlichen Wahrheit, deren Offenbarerin ihm allein das Wort Gottes und deren Bewahrerin ihm die Kirche war. Das also war die Subjektivität der Reformation, eine ganz andere als die Subjektivität des modernen Rationalismus, dessen Grundsatz somit zwar an die Reformation anknüpft, aber die Entstellung der Reformation ist.“
Prof. Christoph Ernst Luthardt, „Vorträge über die modernen Weltanschauungen“, gehalten zu Leipzig im Winter 1880, S. 29 ff.